Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commercial parties, including placing lechnical restrictions on automated querying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct and hclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers rcach ncw audicnccs. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http: //books. google .com/l
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Uiheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tür Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials fürdieseZwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .coiril durchsuchen.
LIBRARY
OF THE
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
Class
KUNST ^i§3©s3^ai^@j
UND WISSENSCHAFT
VORTRAG
GEHALTEN ZU WIEN
AM 27. NOVEMBER 1904
VON
WILHELM OSTWALD
f ^ or THl
/ UNIYER81TY
VERLAG VON VEIT & COMP. IN LEIPZIG
1905
N71
IUI
Verhältnis von Wissenschaft und Kunst ist
Timer ein wenig einseitig gewesen. Die
Wissenschaft, oder wenigstens ein gewisser
Teil derselben, der sich Ästhetik nennt, hat sich von
Zeit zu Zeit mehr oder weniger lebhaft der Kunst an-
genommen und sie nach Art einer zwar nicht lieblosen,
aber vor allen Dingen strengen Tante zu erziehen ver-
sucht. Die Kunst ihrerseits hat zuweilen solchen Er-
ziehungsversuchen Gehorsam erwiesen. Dieser ist ihr
aber im allgemeinen nicht sehr gut bekommen, und es
wurde ihr zuletzt schlecht bei der ästhetischen Artigkeit
Sie hat dann über die Stränge geschlagen und die Tante
verhöhnt, ja gehaßt und möglichst das O^enteil von
dem getan, was sie gewollt hat Da heute keine er-
ziehungsbedürftigen lOnder in der Versammlung sind,
so darf ich verraten, daß der Kunst die Aufsäßigkeit
gegen die Tante meist sehr gut bekommen ist Während
sie in den Tagen der Artigkeit unter der Pflege der
Tante zwar sauber gewaschen und gekämmt war, aber
4 KUNST UND WISSENSCHAFT
doch ein wenig stubenluftig und blutarm zu werden
drohte, wurde sie in den Tagen der Aufsäßigkeit äußerst
gesund und munter, wenn auch andererseits ihre
Ordentlichkeit oft nicht wenig zu wünschen übrig ließ.
Das Ergebnis ist, daß zwar die Tante der Meinung ge-
blieben ist, daß die Kunst ohne ihre Hilfe und Führung
nicht wohl, wie es sich gehört, durch das Leben gehen
kann, daß aber die Kunst ihrerseits durchaus der Meinung
ist, daß die Tante besser wäre, wo der Pfeffer wächst,
und daß das eigentliche Leben erst angeht, wo sie
nicht immer hineinschaut.
Im Leben pflegen derartige Verhältnisse mit einem
Bruch zu enden, indem der Bube endlich entläuft, wenn
nicht die Tante vorher stirbt. Das kommt daher, daß
beide Teile eben älter werden, und daß dadurch der
Gegensatz zwischen ihnen immer schärfer in die Er-
scheinung tritt. Bei dem Verhältnis zwischen Wissen-
schaft und Kunst kann dies nicht eintreten. Einmal,
weil beide unsterblich sind, und zweitens weil sie ein-
ander nie entlaufen können. Denn wohin die Kunst
auch laufen mag, überall findet sie die Wissenschaft vor.
Und die Wissenschaft kann trotz des groben Undankes,
den sie bisher von der Kunst erfahren hat, nicht von ihr
lassen. So entsteht die Frage: ist nicht doch auf irgend
eine Weise ein Auskommen zwischen beiden möglich?
KUNST UND WISSENSCHAFT 5
Ich glaube man darf ja sagen, wenigstens ein be-
dingtes Ja. Es hat Momente gegeben, wo beide so
friedlich und förderlich miteinander gehaust haben, wie
es ein Menschenfreund nur irgend wünschen kann ; ich
brauche nur die Namen Lionardo da Vinci und Albrecht
Dürer zu nennen. In der Brust und dem Kopfe dieser
Männer bestand kein Gegensatz zwischen Wissenschaft
und Kunst; eine förderte vielmehr die andere, und zwar
nicht einseitig, sondern gegenseitig. Ohne ihre Wissen-
schaft wären jene Männer nicht die großen Künstler
gewesen, ohne ihre Kunst hätte ihnen der beste Teil des
wissenschaftlichen Antriebes und der wissenschaftlichen
Anschauung gefehlt
Das sind vereinzelte Erscheinungen, werden Sie
sagen, und Ausnahmen beweisen die Regel. Ersteres
gebe ich zu, letzteres bestreite ich. Ich kenne keine
unsinnigere Behauptung, als daß Ausnahmen die Regel
beweisen sollen; meine Logik, soweit ich über sie ver-
füge, sagt mir im Gegenteil, daß Ausnahmen die Regel
entweder ganz umwerfen oder sie mindestens zweifelhaft
machen. Wenn also derartige Erscheinungen auftreten,
wie wir sie an jenen Männern bewundem, so haben
wir sie nicht fortzuschieben mit jener Redensart, sondern
wir haben zu untersuchen, wie eine so schöne und wert-
volle Erscheinung zustande gekommen ist, um sie wo-
6 KUNST UND WISSENSCHAFT
möglich wieder hervorzurufen oder wenigstens zu be-
günstigen, wenn sich die Aussicht dazu bietet.
Denken wir einmal darüber nach, unter welchen Be-
dingungen sich die Tante mit dem Jungen gut vertragen
wird. Wir haben schon feststellen müssen, daß die Sache
immer hoffnungsloser wird, je älter beide werden. Daß
sie umgekehrt um so hoffnungsvoller werden müßte,
wenn zwar der Junge immer älter, die Tante aber
immer jünger würde, bemerken wir zunächst der systema-
tischen Vollständigkeit wegen, ohne wegen der Unmög-
lichkeit eines solchen Verlaufes besonderes Gewicht
darauf zu legen. Aber hier wollen wir uns doch darauf
besinnen, daß Kunst und Wissenschaften zwar gewisse
Ähnlichkeiten mit menschlichen Wesen haben, sich aber,
wie bereits bemerkt, durch ihre Unsterblichkeit erheblich
von ihnen unterscheiden. Diese Unsterblichkeit bringt
es mit sich, daß sie nicht nur älter, sondern von Zeit zu
Zeit auch jünger werden. Da sehen wir mit einem Male
Hoffnung! Wenn es sich einmal so trifft, daß die Wissen-
schaft eben recht jung ist, während die Kunst bereits
eine gewisse Reife erlangt hat, so ist ja alles da, was
erforderlich ist. Und betrachten wir die eben erwähnten
Fälle, so bemerken wir, daß in der Tat beide in einer
Zeit liegen, wo bei reifer Kunst die Wissenschaft, ins-
besondere die Naturwissenschaft, sich zu einem großen
KUNST UND WISSENSCHAFT 7
Aufschwung vorbereitet und alle Zeichen der Jugend-
lichkeit zu erkennen gegeben hat
Aber ich möchte doch den Vergleich nicht zu Tode
hetzen; auch geziemt es sich für einen Angehörigen der
wissenschaftlichen Zunft, nach den Regeln seines Ge-
werbes seine Arbeit zu machen. So will ich denn an
die bisherigen Betrachtungen alsbald den Ausdruck
meiner Überzeugung knüpfen, daß unsere Zeit ein
gleiches nahes Verhältnis zwischen Wissenschaft und
Kunst teils schon besitzt, teils erwarten kann, wie es in
jener glänzenden Zeit um den Anfang des sechzehnten
Jahrhunderts bestanden hat. Und diese Überzeugung
möchte ich begründen; dazu muß ich zunächst ein wenig
von der Verjüngung der Wissenschaft sprechen.
Diese Verjüngung zeigt sich vor allen Dingen darin,
daß die Wissenschaft einen großen Teil von ihrer früheren
Strenge und Härte aufgegeben hat. Noch Goethe, der
doch überall die Rechte der Kunst gegenüber denen
der Wissenschaft verfochten hat, drückt seine Über-
zeugung von der Beschaffenheit der Naturgesetze in den
immer wieder zitierten Worten von den ewigen, ehernen,
großen Gesetzen aus, nach denen wir alle unseres Da-
seins Kreise vollenden sollen. Ihm, und wohl auch
noch den meisten heute, erscheinen die Naturgesetze
als feindliche, unbarmherzige Mächte, die den armen
S KUNST UND WISSENSCHAFT
widerstandslosen Menschen zwischen ihre Räder nehmen
und ohne Rücksicht auf sein Wünschen und Flehen zer-
malmen. Wenn wir die wirklichen Verhältnisse be-
obachten, wie sie heute überall uns ungerufen entgegen-
treten, wenn wir sehen, wie die zerstörenden Gewalten
der Natur durch des Menschen Hand gebändigt und zu
seinem Nutzen und Vergnügen zu arbeiten gezwungen
werden, wie Seuchen und Pest den größten Teil ihrer
Schrecken verloren haben, wie nicht nur das Behagen
am Leben, sondern auch die durchschnittliche Lebens-
dauer durch die Fortschritte der hygienischen Wissen-
schaften gesteigert werden, so will uns diese Schilderung
der Naturkräfte gar nicht mehr passend erscheinen. Sie
kommen uns nicht wie feindliche Titanen, sondern viel-
mehr wie große kluge Elefanten vor, welche zu den
wertvollsten Dienstleistungen veranlaßt werden können,
wenn man sie nur richtig zu behandeln weiß.
Oder wenn Sie ein anderes Bild vorziehen: unsere
frühere Vorstellung von den Naturgesetzen entsprach
der zwangsweisen Führung längs eines unabänderlich
vorgeschriebenen Weges, der keinerlei Abweichung nach
rechts oder links gestattete oder ermöglichte. Jetzt be-
trachten wir die Naturgesetze wie Wegweiser in einem
breiten Gelände, das Berg und Tal, Wald und Sumpf
enthält. Wir werden durch diese Wegweiser keineswegs
KUNST UND WISSENSCHAFT 9
gezwungen, gerade diesen oder jenen Weg zu gehen;
ja niemand hindert uns, unmittelbar in den Sumpf hinein-
zusteuern. Nur belehrt uns das Naturgesetz, daß, wenn
wir diesen Weg verfolgen, wir in den Sumpf geraten
werden, denn es ist vor uns ein zuverlässiger Mann
dagewesen, der ihn gesehen, untersucht und darüber
Nachricht hinterlassen hat. Und der Fortschritt der
Wissenschaft entspricht der Anbringung einer immer
größeren Anzahl von zuverlässigen Wegweisem. Manch-
mal hat sich der erste Erforscher geirrt, und man
kann ganz wohl einen Weg gehen, der früher für
ungangbar gehalten worden war. Und dann findet es
sich auch wohl, daß der erste Entdecker eines neuen
Weges von allen möglichen Wegen gerade den un-
bequemsten und umständlichsten gegangen ist Der
Nachfolger hat es freilich leichter; nachdem er weiß,
daß man jedenfalls ans Ziel gelangen kann, darf er
seine Zeit und Aufmerksamkeit ungeteilt auf die Er-
mittelung eines besseren Weges wenden; die Nachwelt
aber weiß dem ersten Pfadfinder um so mehr Dank,
als er neben den unabwendbaren Schwierigkeiten des
Zieles noch jene zufälligen des ersten Weges über-
wunden hat.
Es ist nicht sehr lange her, daß sich diese milde
oder gemütliche Auffassung der Naturgesetze allgemeiner
/ Of THl
\-NIVER8ITY
10 KUNST UND WISSENSCHAFT
verbreitet hat; die vorher geschilderte Strenge hat gegen-
wärtig wohl noch die Mehrheit, soweit diese gezählt
wird. Wird sie freilich gewogen, so dürfte ein günstigeres
Ergebnis für die Vertreter der neueren Anschauung her-
auskommen. Ich bin glücklich, hier an dieser Stelle
und in diesem Zusammenhange den Namen des Mannes
nennen zu dürfen, dem nicht nur die Wissenschaft eine
entscheidende Führung nach dieser Richtung verdankt,
sondern der auch heute der unmittelbare Anlass ge-
wesen ist, daß ich zu Ihnen reden darf. Es ist Ernst
Mach, der Mann, welcher der allgemeinen Wissenschaft
seit einem Menschenalter die neuen Wege gezeigt und
erläutert hat, die sie nun endlich mehr und mehr zu
gehen beginnt
Sie werden vielleicht schon seit einiger Zeit ge-
fragt haben, was denn diese Betrachtungen mit der Kunst
zu tun haben. Nun, wir können sie jedenfalls unmittel-
bar auf die Wissenschaft von der Kunst, die Ästhetik,
anwenden. Die frühere Ästhetik, die Ästhetik von
oben, wie sie Gustav Theodor Fechner zu nennen
liebte, war solch eine befehlende Wissenschaft Noch
heute gibt es Vertreter derselben, die den Anspruch er-
heben, sie sei tatsächlich eine normative Wissenschaft,
sie habe die Fähigkeit und daher das Recht, dem Künstler
vorzuschreiben, was er zu tun, und insbesondere was
KUNST UND WISSENSCHAFT 11
er zu lassen habe. Das ist der Standpunkt der alten
Tante, und dieser wird die Kunst um so mehr zu ge-
horchen sich weigern, je jugendlicher und schaffens-
kräftiger sie sich fühlt.
Aber eben derselbe Fechner, dieser Typus eines
deutschen Professors mit schwacher Gesundheit und
etwas philisterhaften Lebensgewohnheiten, der stillen
Gemütes von seinem Schreibtische aus Gedanken in die
Welt gesendet hat, aus denen hernach große Gebiete
menschlicher Forschung und Entwicklung geworden
sind, derselbe Fechner hat uns gezeigt, daß es auch
eine Ästhetik von unten, eine experimentelle oder
besser erfahrungsgemäße Ästhetik gibt, eine Wissen-
schaft, die nicht der Kunst befiehlt: dies sollst Du tun,
sondern eine, die freundlich und eifrig fragt: kann ich
Dir nicht helfen?
Ehe freilich die Kunst diese dargebotene Hilfe an-
nimmt, wird sie fragen : kannst Du mir denn überhaupt
helfen? Ist nicht vielleicht alles Eingreifen der Wissen-
schaft eher schädlich als förderlich, indem sie bestrebt
ist, an die Stelle aus schönem Wahnsinn geborener
Werke der wahren Kunst die nüchternen und dürftigen
Ergebnisse verstandesmäßiger Konstruktion zu setzen?
So wird der Künstler es vielleicht zulassen, schon weil
er es nicht hindern kann, daß sich die Ästhetik der
12 KUNST UND WISSENSCHAFT
Kunstleichen bemächtigt, seien diese eines natürlichen
Todes gestorben oder zu dem Zwecke erst umgebracht,
d. h. ihres künstlerischen Geistes beraubt, um an diesen
ihre Anatomie zu betreiben. Aber an den lebendigeh
Leib der Kunst, d. h. an die Tätigkeit bei der Schöpfung
neuer Kunstwerke, wird er sie um keinen Preis heran-
lassen wollen, schon wegen der Phantasie, „daß die alte
Schwiegermutter Weisheit das zarte Seelchen ja nicht
beleidige."
Diese Äußerung Goethes ist eine von den zahl-
losen, die alle den gleichen Gedanken ausdrücken, und
es erscheint hoffnungslos, gegen so gewichtige Autori-
täten auftreten zu wollen. Aber der Professor ist nach
der maßgebenden Definition der Fliegenden Blätter ein
Mann, welcher anderer Meinung ist, und so bitte ich mit
Geduld anzuhören, was ich nach der anderen Seite vor-
zubringen habe. Es ist vor allen Dingen der Umstand,
daß Kunst und Wissenschaft wegen ihrer Be-
deutung für dieKultur der Menschheit von vorn-
herein aufeinander angewiesen sind. Und es ist
zweitens der Umstand, daß in ihrem ursprünglichen Wesen
Kunst und Wissenschaft Kinder derselben Eltern
sind, Kinder der Not und der Freude des Lebens.
Alle Reste ältester Kultur zeigen uns die Kunst
und Wissenschaft jener Zeiten unauflöslich zu einer
KUNST UND WISSENSCHAFT 13
Einheit verbunden. Sei es, daß die ersten Gesetze, die
das Leben regelten und erleichterten, sich in das Gewand
der Dichtung kleiden, sei es, daß die täglichen Geräte
nicht in Gebrauch genommen wurden, bevor sie mit
künstlerischem Omamentenschmuck bedeckt waren —
stets finden wir beide zusammen als den Ausdruck der
beginnenden Herrschaft des Menschen über die ihn
umgebende Natur. Die bemerkenswerteste Philosophen-
gestalt des griechischen Altertums, Piaton, ist durch
und durch künstlerisch in der Gestaltung seiner kühnen,
wenn auch falschen Gedanken und selbst der Vorgänger
des eben vergangenen wissenschaftlichen Mechanismus,
Lucretius, kleidet seine naturwissenschaftlichen Hypo-
thesen in ein dichterisches Gewand.
So werden wir nicht zu fragen haben: wie sollen
Kunst und Wissenschaft zusammen kommen, sondern
wir müssen erst die Antwort auf die Frage haben : wie
sind sie auseinander gekommen? Auch diese Antwort
will ich vorausnehmen : sie sind auseinander gekommen,
weil sie verschiedenen Schrittes gehen. Die Kunst geht
immer voran: als die große Zeit der italienischen
Malerei während des sechzehnten Jahrhunderts im
Erlöschen war, begann die große Zeit der italienischen
Wissenschaft unter der Führung des unvergleichlichen
Meisters Galilei, und der große Akkord der deutschen
14 KUNST UND WISSENSCHAFT
Dichtung in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr-
hunderts mußte erst ausklingen, ehe im neunzehnten
der Aufschwung der deutschen Wissenschaft eintreten
konnte. In der Eroberung immer neuer Gebiete durch den
menschlichen Geist ist die Kunst immer die Führer! n ge-
wesen. Die Wissenschaft ist hinterdrein gekommen, und so
kann es nicht wundernehmen, wenn jene den Anspruch
der nachhinkenden Wissenschaft, ihrerseits Führerdienste
zu leisten, als lächerlich und unbescheiden zurückweist.
Wenn ein Vertreter der Wissenschaft sich nicht
scheut j dieses Verhältnis auszusprechen, so dürfen Sie
überzeugt sein, daß es sehr offenkundig sein muß. In
der Tat, wenn wir versuchen, in allgemeinster Weise
die Richtung festzustellen, in welcher die Menschheit
sich hier auf Erden bewegt, so werden wir sagen: es
ist die auf eine immer weitergehende Beherrsch-
ung der Natur und auf ein immer besseres Aus-
kommen mit den Mitmenschen gewendete Richtung.
Und das einzige Mittel, die Natur zu beherrschen und
mit den Menschen zu leben, ist, ihre Eigenschaften und
Wege kennen zu lernen, so daß man ihr Verhalten
voraussehen, sich darnach einrichten und womöglich
es beeinflussen kann.
Nun wird man wohl der Wissenschaft im all-
gemeinsten Sinne eine derartige Aufgabe zuerkennen.
KUNST UND WISSENSCHAFT 15
wegen der Kunst werden aber einige Zweifel berechtigt
sein. Es kann auch alsbald zugestanden werden, daß
Kenntnis des Menschen und der Natur nicht die eigent-
liche Aufgabe der Kunst ist. Ihre Aufgabe ist sie nicht,
aber ihr Mittel. Und da eine Kunst ohne ihr Mittel
nichts ist, so ist eine Kunst ohne Kenntnis des Wesens
der Menschen und der Natur auch nichts.
Was ist denn aber eigentlich die Aufgabe der
Kunst? Nun, ich weiß sehr wohl, daß es auf diese Frage
ungefähr ebensoviele verschiedene Antworten gibt als
Personen, die sie zu beantworten versucht haben. Es
ist ein sehr domiger Boden, den ich hier betreten; aber
wir können nicht anders, wir müssen hier festen Fuß
fassen, sonst kommen wir nicht weiter! Von einem
nüchternen Naturforscher werden Sie nicht erwarten,
daß er eine der ebenso schwungvollen wie unverständ-
lichen Definitionen der Kunst zutage fördert, die sich
hier so vielfältig finden. Aber wenn ich alles durch-
suche, was ich von Kunsteinflüssen in meinem Leben
gehabt habe, so läßt es sich unter folgende Beschreibung
bringen: Die Kunst soll uns in den Stand setzen^
willkürlich erwünschte Gefühle hervorzurufen.
Ich mache mich darauf gefaßt, daß jetzt eine große
Anzahl unter Ihnen in Ihrem Herzen denken, daß Sie
etwas so verzweifelt Nüchternes selbst nach den bis-
16 KUNST UND WISSENSCHAFT
herigen Ausführungen nicht erwartet hätten, und daß
Sie nur durch Ihre Höflichkeit veranlaßt werden, über-
haupt sitzen zu bleiben und weiter zu hören. Sie er-
innern sich der Weihestunden, die Sie mit Beethovens
neunter Symphonie oder vor Böcklins Bildern gefeiert
haben, Sie wissen genau, wie die Kunst Sie empor-
gehoben hat, wenn das drückende Einerlei des Tages
oder gar menschliche Gemeinheit Ihnen die Lebens-
freude ausgelöscht und die trüben Schleier der Ver-
stimmung über Ihren Tag gebreitet hatten. Und alles
dieses soll durch jene nüchternen Worte umschlossen
werden ?
Ich hoffe, Sie, meine verehrten Zuhörer, durch das,
was ich eben gesagt habe, überzeugt zu haben, daß
auch bei mir ein persönliches und Herzensempfinden
der Kunst gegenüber vorhanden ist Wenn ich die
Jahre überschaue, die ich durchmessen habe, wenn ich
zurückdenke, wie ich die großen Aufgaben der Wissen-
schaft, an denen ich mitzuarbeiten so glücklich war, nur
dadurch zu lösen wußte, daß ich einerseits monotone
Kleinarbeit in weitestem Umfange übernahm, anderer-
seits mich einer Gegnerschaft aussetzte, die sich unter
Umständen bis zu bitterem Hasse gesteigert hat, dann
weiß ich, wie mir die Kunst immer wieder Mut und
Frische gegeben hat, wie ich schwere Überarbeitungen
KUNST TTOD WISSENSCHAFT 17
schnell und sicher dadurch zur Heilung brachte, daß
ich irgendwo in reizvoller Landschaft mit Malkasten
und Feldstuhl herumzog. Wenn also emer den Segen
der Kunst erfahren hat, so bin ich es sicherlich, und
undankbar gegen diesen Segen zu sein, kommt mir um
so weniger in den Sinn, als ich mich gerade in letzter
Zeit eingehender mit hierhergehörigen Arbeiten zu be-
schäftigen begonnen habe. So kann ich nur als ehr^
licher Naturforscher oder Philosoph sagen, daß ich
bei allem Suchen keine bessere Definition habe finden
können, und ich hoffe Sie in nicht zu langer Zeit zu
überzeugen, daß sie wirkligh brauchbar und an-
gemessen ist
Zunächst darf es als ein Ergebnis der neueren
Kunstforschung, auf das sich immer mehr und mehr
Stimmen vereinigen, hingestellt werden, daß die Kunst
es mit der Erweckung von Gefühlen zu tun hat
Fragen Sie sich selbst, weshalb Sie die Kunst suchen
und lieben, vergegenwärtigen Sie sich das, was ich von
Ihren eigenen Kunsterfdirungen Ihnen eben in das
Gedächtnis zurückzurufen versucht habe, so werden Sie
alsbald bereit sein, zuzugeben, daß durch die Kunst in
erster Linie Gefühle erweckt oder vorhandene gesteigert
werden, und daß in diesen Gefühlen das Wesentliche
der Kunstwirkung liegt. Aber, werden Sie einwenden,
2
I
<
18 KUNST UND WISSENSCHAFT
das sind nicht gewöhnliche Gefühle, das sind ganz
besonders hohe und herrliche Gefühle. Ganz der-
selben Meinung bin ich auch, und diese Meinung habe
ich eben ausdrücken wollen, wenn ich die Hervor-
rufung erwünschter Gefühle als die Aufgabe der Kunst
kennzeichnete. Sind denn etwa diese hohen und herr-
lichen Gefühle nicht erwünscht? Freilich, werden Sie
sagen, aber «erwünscht« ist ein so nüchterner und un-
zulänglicher Ausdruck für das, was wir tatsächlich fühlen.
Da hab^n wir den Punkt Sie haben von einer Defini-
tion der Kunst, also von einer wissenschaftlichen
Arbeit, eine künstlerische Wirkung verlangt, nämlich
die Hervorrufung einer anschaulichen Erinnerung Ihrer
*.
Kunstgefühle, und nur weil diese in den von mir ge-
wählten Worten vermißt wurde, haben Sie die Definition
ungenügend oder unpassend gefunden. Als ich dann
den gleichen Inhalt mit Worten aussprach, durch welche
jene Erinnerungen belebt wurden, waren Sie einver-
standen.
Wir dürfen eben nicht vergessen, daß unter Kunst
nicht allein die sogenannte hohe Kunst, die Kunst,
besonders starke, tiefe oder feierliche Gefühle zu er-
wecken, verstanden sein will, sondern die gesamte Kunst
in allen ihren Ausläufern, bis zum gemalten Blümchen,
das unsere Kaffeetasse verschönt und zu der Halsbinde,
KUNST UND WISSENSCHAFT 19
in deren Knoten der Jüngling den Ausdruck seines
innersten Wesens legt. Um dies große Gebiet zu decken,
ist eben ein mehr neutrales Wort erforderlich, das gleich-
zeitig das allgemein Vorhandene kennzeichnet Und
dies allgemein Vorhandene ist, daß die fraglichen Ge-
fühle in der Tat gesucht und angestrebt werden.
Dann werden Sie mir vielleicht den Einwand ent-
gegenhalten, daß manche von den angestrebten Gefühlen
keineswegs lobenswert seien, und daß Sie ungern den
heiligen Namen der Kunst für derartige Bestrebungen
hergeben möchten. Wir können ganz einig über die
moralische Beurteilung solcher Bestrebungen sein, ohne
daß sich daraus ein Grund ergibt, ihnen den Namen
der Kunst vorzuenthalten. Es ist ebenso möglich wie bei
der Kunst, daß auch die Wissenschaft zu unmoralischen
Zwecken angewendet wird. Wenn ein besonders
kenntnisreicher Einbrecher sein Werk mit Hilfe einer
Knallgas -Stichflamme ausführt und gelegentlich bei
schwierigen Fällen Thermit zu Hilfe nimmt, so kann
daraus der Experimentalchemie kein Vorwurf gemacht
werden. Und das gleiche gilt von der Kunst
Um Sie mit dem, was ich durch jene Definition
ausdrücken will, noch ein wenig vertrauter zu machen,
will ich den Punkt noch von anderer Seite zu erreichen
versuchen. Mit Ihrer Übereinstimmung habe ich bisher
20 KUNST UND WISSENSCHAFT
das Wort Kunst in einem engeren Sinne gebraucht,
der in früheren Zeiten nicht ohne weiteres verstanden
worden wäre. Früher unterschied man die schönen
Künste von den nützlichen Künsten und stellte damit
eine weitgehende Ähnlichkeit zwischen beiden Arten
der Betätigung fest Daß gegenwärtig dieser Sprach-
gebrauch fast ganz verschwunden ist, liegt vermutlich
an dem schädlichen Einflüsse der normativen Ästhetik,
der es nicht recht war, die praktischen Fertigkeiten mit
den ästhetischen in einem Atem zu nennen. Hierdurch
ist denn manche schiefe Auffassung der Kunst begründet,
insbesondere die noch jetzt oft genug geltend gemachte
Ansicht, die Kunst im engeren Sinne müsse vor allen
Dingen etwas Unnützes sein, und sowie sie mit irgend
etwas Nützlichem verbunden sei, höre sie auf, Kunst
zu sein.
Ich will mich nicht lange mit der Widerlegung
(fieser offenbar unhaltbaren Ansicht aufhalten, sondern
mich mit dem Hinweis begnügen, daß, wenn auch die
Kunst im engeren Sinne nicht den Zweck hat, technische
Gebrauchsgegenstände herzustellen, sie ihre erfreuliche
Wirkung doch an jedem Gegenstände betätigen kann,
welchem Zwecke dieser sonst noch dienen mag. Eben-
sowenig, wie ein Weinglas aufhört, ein Trinkgefäß zu
sein, wenn man dies Gerät in einer für das Auge er-
KUNST UND WISSENSCHAFT 21
freulichen Gestalt und Farbe, also künstlerisch ausführt,
ebensowenig hört etwa ein schöngemalter Theatervor-
hang auf, ein Kunstwerk zu sein, wenn er außerdem
den technischen Zweck erfüllt, die Bühne für die Zeit
der Vorbereitung den Augen der Zuschauer zu ver-
decken. Es kann mit anderen Worten ein Ding gleidi-
zeitig verschiedenen Zwecken dienen, und einer derselben
kann natürlich auch der künstlerische Eindruck sein.
Wir werden uns also nicht scheuen, die Ähnlich-
keit zwischen dem, was man früher Kunst im allgemeinen
nannte, und der Kunst im heutigen engeren Sinne etwas
eingehender zu verfolgen. In jenem weiteren Sinne heißt
Kunst ein jedes Können. So gibt es eine Kunst des
Schlittschuhlaufens und Radfahrens, eine des Drechseins,
Schmiedens und Skatspielens, eine Kunst, sich in Damen-
gesellschaft beliebt zu machen, bis zur Kunst des Lesens
und Schreibens herab.
Das Allgemeine bei allen diesen Kunst genannten
Dingen ist eine über das alltägliche hinausgehende
Beherrschung irgend eines Gebietes des Geschehens
derart, daß bestimmte Erscheinungen nach Belieben
hervorgebracht werden können. Daher bezeichnet man
auch solche willkürlich hervorgebrachte Dinge als
künstlich im Gegensatz zu den natürlichen, die ohne
•Dazutun menschlicher oder sonstiger Willenstätigkeit
22 KUNST UND WISSENSCHAFT
entstehen. Hier sehen Sie alsbald den tatsächlich sehr
engen Zusammenhang zwischen diesen Künsten und
der Kunst im engeren Sinne eben auf Orund der vorher
ausgesprochenen Definition. Letztere ist eben nur ein
Sonderfall des allgemeineren Begriffes Kunst. Eine von
den vielen möglichen Künsten ist unter anderen auch
die Kunst, Gefühle hervorzurufen, und zwar willkürlich
oder auf künstlichem Wege. Wenn wir uns den
doppelten Gebrauch des Wortes Kunst gestatten, so
können wir noch prägnanter definieren: Kunst ist die
Kunst, künstlich willkommene Gefühle hervor-
zurufen.
Von diesen Gesichtspunkten gewinnt man auch
leicht eine klare Einsicht in das Verhältnis zwischen
dem Naturschönen und dem Kunstschönen. Jeder,
der versucht hat, sich in der ästhetischen Literatur
zurechtzufinden, wird gewahr geworden sein, wie diese
Frage ein wahres Kreuz für die theoretischen Ästhetiker
ist, da doch einerseits beide so sehr ähnliche Wirkung
haben, während andererseits die ästhetischen Definitionen
so gar nicht auf den Fall passen wollen. Wir werden
das Naturschöne einfach als dasjenige an den Natur-
erscheinungen aufzufassen haben, was erwünschte
Gefühle in uns hervorruft. Daß eine Natur-
erscheinung, die gar keine Gefühle in uns hervorruft,
^NIVERSITY
KUNST UND WISSENSCHAFT 23
auch nicht von uns schön genannt werden wird, brauche
ich nur zu erwähnen. Daß wir andererseits eine Natur,
die unerwünschte Gefühle hervorruft, auch nicht schön
finden werden, ist gleichfalls selbstverständlich. Um
uns darüber klar za werden, brauchen wir uns nur zu
vergegenwärtigen, ob wir einen Sturm auf dem Meere
vom Lande aus beobachten, oder von einem kleinen
Boote aus, das jeden Augenblick umzuschlagen droht.
Im zweiten Falle sind die durch die Naturerscheinung
erregten Gefühle bei weitem die stärkeren, aber einen
ästhetischen Wert werden wir nur im ersten Falle
konstatieren können. Im zweiten Falle nimmt uns das
Gefühl der Furcht so stark in Anspruch — wenigstens
muß ich für mich bekennen, daß es so sein würde —
daß wir für die Empfindungen des Großartigen im
Sturm keine Zeit und Gedanken übrig behalten. Beim
Anblicke eines gemalten Seesturmes fällt die Furcht
ganz und gar fort, und so können wir noch vollständiger
den Eindruck der Großartigkeit genießen, insbesondere
wenn wir vorher einige unmittelbare Erfahrungen über
derartige Ereignisse gesammelt hatten, und natürlich
auch nur unter der Voraussetzung, daß der Künstler
es verstanden hat, gerade das zur Anschauung zu
bringen, was in uns das Gefühl des großartigen Er-
eignisses erweckt
24 KUNST UND WISSENSCHAFT
Diese Betrachtungen erklären uns auch den inter-
essanten Entwickelungsgang, den unser Gefühl für
Naturschönheit genommen hat. Es ist ja bekannt, daß
z. B. unsere Fähigkeit, uns an der Schönheit der Alpen zu
begeistern, recht neuen Datums ist. Sie ist erst in der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden
und auch hier hat Goethe als einer der Bahnbrecher
gewirkt Die Schönheit der norddeutschen Marsch-
landschaften ist noch viel neueren Datums, ebenso die
der Havelseen in der Umgebung Berlins. In allen diesen
Fällen handelt es sich um Entdeckungen durch Künstler,
die auf diese Weise der Menschheit ein noch wert-
volleres Geschenk machten, als durch ihre Kunstwerke
selbst. Daß aber Künstler, und nur solche, zu der-
artigen Entdeckungen befähigt sind, rührt eben daher,
daß Künstler berufsmäßig die Quellen willkommener
Gefühle zu finden und zu regeln haben, und daß sie
solche in der Natur selbst erlebt haben müssen, bevor
sie sie wiedergeben und anderen Menschen zugänglich
machen können.
An der Hand unserer so als angemessen bewährten
Begriffsbestimmung wird es uns nun leicht werden, das
Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft festzustellen.
Handelt es sich um die Erweckung von Gefühlen,
so kommen zwei Wissenschaften in Betracht: einerseits
KUNST UND WISSENSCHAFT 25
die Wissenschaft von den Gefühlen selbst, die einen
Teil der Psychologie bildet, und andererseits die
Wissenschaft von den Hilfsmitteln solcher Orfühls-
erregungen. Letztere bezeichnet man zusammenfassend
als die Technik der Kunst Da nun die Kunst sich
sehr mannigfaltiger Hilfsmittel bedient, um ihre Zwecke
zu erreichen, so macht die technische Kunstlehre in der
Tat, ähnlich der Heilkunst, von fast allen Gebieten der
Naturwissenschaften Gebrauch.
Dies ist also die Antwort auf die Frage, die wir
oben gestellt haben, ob nämlich die Wissenschaft der
Kunst überhaupt dienlich und nützlich sein kann. Sie
kann es in hohem Maße. Dem Goetheschen: «Wenn
Ihrs nicht fühlt, Ihr werdets nicht erjagen"
kann man das Wort entgegenstellen: »Wenn Ihrs
nicht könnt, vermögt Ihrs nicht zu sagfen«.
Was Goethe gemeint hat, besagt, daß ohne Gefühl
eine Kunst unmöglich ist. Das entspricht ganz unserer
Auffassung, daß die Gefühle eben die Aufgabe der
Kunst sind. Was ich mir hinzuzufügen erlaubt habe,
besagt, daß dem Künstler alles Gefühl, das er selbst
besitzt, nicht zur Lösung seiner Aufgabe ausreicht,
wenn er nicht weiß, wie er sein Gefühl in anderen
hervorrufen kann, d. h. wenn ihm die Kenntnis der
Mittel fehlt.
26 KUNST UND WISSENSCHAFT
Was zunächst die Gefühle des Künstiers selbst
anlangt, so wird er unzweifelhaft vorziehen, sie selbst
zu erleben, als sie aus einem Lehrbuch der Psychologie
kennen zu lernen. Damit glaube ich einen Einwand
auszusprechen, der vielleicht manchen von Ihnen auf
der Zunge liegt. Das ist unzweifelhaft richtig; ebenso-
wenig, wie man aus einem Lehrbuche lernen kann,
wie die Empfindung blau oder süß beschaffen ist, ebenso-
wenig kann man sich aus einem solchen über Gefühle
unterrichten lassen wollen, die man nicht aus Erfahrung
kennt Aber dies soll die Wissenschaft auch nicht; ihre
Aufgabe beginnt erst etwas später. Die verschiedenen
Gefühle folgen aufeinander nicht regellos, sondern zu-
folge bestimmter Gesetzmäßigkeiten. Wenn beispiels-
weise in Goethes köstlicher Idylle Alexis und Dora, die
Schilderung, wie sich die Liebenden im Augenblicke
des Abschieds gefunden hatten, sich zu höherer und
höherer Glut in der Ausmalung der wonnigen Zukunft
steigert und dann an der höchsten Stelle mit schneller
Wendung in eine ebenso leidenschaftliche Eifersucht
überschlägt, so fühlen wir lebhaft, mit welcher Sicher-
heit hier der Künstler das psychologische Gesetz von
den Kontrastempfindungen gehandhabt hat. Vielleicht
erkennt es nicht ein jeder bewußt; wohl aber fühlt ein
jeder doch die innere Richtigkeit, ja Notwendigkeit
KUNST UND WISSENSCHAFT 27
dieses Stimmungswechsels, von dem die künstlerische
Wirkung des Gedichtes abhängig ist
Ja, hat denn Goethe selbst diese psychologischen
Gesetze gekannt? werden Sie mich hier wieder fragen.
Freilich hat er sie gekannt; wir besitzen Bemerkungen
von ihm, in denen er gerade sein Verfahren in diesem
Gedichte verteidigt gegenüber solchen, denen die
von ihm gewagte Abweichung vom Gebräuchlichen
zunächst nicht einleuchten wollte. Aus tausend Stellen
seiner Briefe und Abhandlungen kann man sich über-
zeugen, wie bewußt er die psychologischen Gesetze
seiner Kunst handhabte.
Aber wie ist er denn dazu gekommen? wird wieder
gefragt werden; die Psychologie seiner Zeit war ja viel
zu wenig entwickelt, als daß er sie hätte benutzen können.
Dies ist wiederum richtig; er hat sich seine Psychologie
eben selbst gemacht, indem er zunächst aufmerksam
alle seine eigenen Erfahrungen über die verschiedenen
Gefühle beobachtete und sich zum Bewußtsein brachte;
jede Seite von „Wahrheit und Dichtung" gibt Auskunft
über diese seine Tätigkeit, wo sich der eigenen Brust
geheime tiefe Wunder öffnen. Hierzu nahm er die Er-
fahrungen an anderen, die er bei seinem lebhaften ge-
selligen und sonstigen Verkehr reichlich zu sammeln Ge-
legenheit hatte. Nachdem er so das Material zusammen
28 KUNST UND WISSENSCHAFT
hatte, entnahm er den verschiedenen Erscheinungen das
Gleichartige, stellte die gegenseitigen Beziehungen der
verschiedenen Gefühle, die Regeln ihres zeitlichen Ab-
laufes, ihre gegenseitige Beeinflussung u. s. w. fest, und
setzte sich so in den Besitz derjenigen Kenntnisse, deren
er für seine Kunstwerke bedurfte. Eine systematische
Ordnung dieser Kenntnisse im Sinne eines wissen-
schaftlichen Lehrgebäudes hat er allerdings nicht durch-
geführt; für seine unmittelbaren Zwecke genügte ihm
sein stets bereites Gedächtnis und seine enorm kräftige
darstellende Phantasie. Daß er aber derartigen syste-
matischen Konstruktionen keineswegs abgeneigt war,
ergibt sich aus zahlreichen Stellen seiner auf die Kunst
bezüglichen Schriften; ich erinnere beispielsweise an die
psychologische Klassifizierung der Kunstfreunde, die er
unter dem Titel „Der Sammler und die Seinigen" ver-
sucht hat.
Das eben geschilderte Verfahren ist aber genau das
der Wissenschaft; auch sie beginnt zunächst mit der
Feststellung des tatsächlichen Materials und geht dann
zu seiner Ordnung über, die zunächst schematisch,
sodann aber womöglich genetisch ausgeführt wird.
Und hier kommen wir auch auf den Punkt zurück,
von dem wir vorher zu unseren Betrachtungen über
den Zweck der Kunst abgebogen waren. Ich hatte be-
KUNST UND WISSENSCHAFT 29
tont, daß die Kunst der Wissenschaft vorauszugehen
pflegt; hier haben wir ein Beispiel davon. Die künstlerisch-
praktische Kenntnis d&c Gefühle war längst vorhanden^
ehe ihre wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat
So hätte auch Goethe wahrscheinlich selbst die in-
zwischen entwickelte Psychologie der Gefühle von heute
ziemlich trivial und kindisch gefunden, da ihm dieselben
Sachen viel mannigfaltiger und feiner bekannt und ge-
läufig waren. Es scheint daher, als sei schließlich die
Wissenschaft ganz überflüssig in all den Fällen, wo die
Kunst die Vorarbeit übernommen hat
Sie wäre es allerdings, wenn, nachdem die Mensch-
heit einen solchen Genius wie Goethe hervorgebracht
hätte, alle nachgeborenen Menschen seiner Vorzüge
teilhaftig geworden wären. Wir wissen leider nur zu
genau, daß dies keineswegs der Fall ist Daher sind
auch die sehr weitgehenden psychologischen Kenntnisse,
die Goethe besaß, sein persönliches Eigentum geblieben
und mit ihm dahingegangen. Seine Werke enthalten
nur die Ergebnisse der Anwendung seiner Kenntnisse
auf besondere Fälle, nicht aber diese Kenntnisse selbst
Mit der Wissenschaft ist es anders. Deren Aufgabe
befrach^n wir nicht als vollendet, wenn nicht der Ent-
decker auch die Ergebnisse seiner Forschung der Welt
in einer solchen Gestalt mi^eteilt hat, daß sie Gemein-
30 KUNST UND WISSENSCHAFT
gut aller derer werden können, welche sich mit den
gleichen Problemen beschäftigen. Wenn der Forscher
seine Kenntnisse selbst geheim halten wollte und nur
die Ergebnisse der Anwendung derselben der Welt
mitteilte, wie das vorübergehend im siebzehnten Jahr-
hundert von einigen Mathematikern geschah, so würden
wir ihn solange als Schuldner der Allgemeinheit be-
trachten, bis er auch jene Mitteilungen gemacht hat, und
wir gestehen ihm nicht einmal das Recht zu, solche
Dinge für sich zu behalten.
Für die Kunst hat daher die Unterbringung be-
stimmter Kenntnisse im Gebiete der Wissenschaft die
Bedeutung, daß von nun an jeder kommende Künstler
diesen ganzen Inhalt zu seiner Verfügung hat, und ihn
nach Bedarf handhaben kann. Er braucht hernach bei
weitem nicht den großen Betrag von ursprünglicher
Begabung und persönlicher Erfahrung, um psychologisch
eben so richtig zu arbeiten, wie es nur einzelne aus-
erwählte Künstler vorher gekonnt haben. Er kann daher
unter sonst gleichen Umständen bessere und eindrucks-
vollere Kunstwerke hervorbringen, als er ohne diese
Kenntnis imstande wäre, und die Kunst selbst wird
daher durch diese wissenschaftliche Hilfe mitte^^ar auf
eine höhere Stufe gehoben.
Vielleicht wird das, was ich Ihnen hier nahe legen
KUNST UND WISSENSCHAFT 31
möchte, noch deutlicher an einem anderen Beispiele,
einem aus der Malerei. Die Lehren des perspekti-
vischen Zeichnens waren den Malern bis zum An-
fange des sechzehnten Jahrhunderts unbekannt Daß
trotz dieses Mangels mancherlei ausgezeichnete Ge-
mälde hergestellt wurden, ist allgemein bekannt Auch
haben einige besonders geschickte Zeichner und sorg-
fältige Beobachter leidlich richtige Perspektiven fertig
gebracht Aber daneben gab es auch eine große
Anzahl verunglückter Versuche in sonst sehr guten
Bildern, die deren Wirkung bedeutend herabdrücken.
Seitdem gleichzeitig die deutschen und italienischen
Maler jener Zeit dann die geometrischen Kon-
struktionen ersonnen und in wissenschaftliche Ordnung
gebracht hatten, nach denen man perspektivisch richtige
Zeichnungen ausführen kann, ohne daß es dazu einer
besonderen künstlerischen Begabung bedarf, hat die
Kunst nicht etwa durch die Mechanisierung eines
wichtigen Elements Rückschritte gemacht sondern er-
hebliche Fortschritte; ein Zeugnis dafür ist der außer-
ordentliche Eifer, mit welchem die beiden großen Maler
jener Zeit, Dürer und Raffael, die Wissenschaft der
Perspektivkonstruktionen sich anzueignen und sie zu
entwickeln bestrebt waren. Umgekehrt hat die zunächst
zu rein künstlerischen Zwecken entwickelte Lehre von
32 KUNST UND WISSENSCHAFT
dem Zusammenhang der perspektivischen Gestalten zu
einem wichtigen Gebiete der Geometrie geführt, näm-
lich zu der synthetischen Geometrie, dem Teile derselben,
in welchem sich die erste selbständige Entwickelung
dieser Wissenschaft über das von den Griechen Erreichte
hinaus betätigt hat.
Mit diesen Betrachtungen sind wir bereits in das
zweite Kapitel der Beziehungen zwischen Kunst und
Wissenschaft, zu den wissenschaftlichen Mitteln der
künstierischen Technik, gelangt
Daß bezüglich des künstlerischen Könnens das
Wissen, also allgemein die Wissenschaft von maßgeben-
der Bedeutung wird, braucht kaum noch im Einzelnen
dargelegt zu werden. Der Maler hat sichtbare Natur-
erscheinungen so darzustellen, daß die Gefühle, welche
diese unmittelbar in uns erregen würden, möglichst
lebhaft durch die Nachbildung erregt werden. Dazu
braucht er nichts nötiger, als eben die Kenntnis dieser
Erscheinungen selbst. Nun kann er sie sich durch
fleißige Beobachtung der Natur erwerben; wir haben
aber eben an dem Beispiele der Perspektive gesehen,
wie auch die fleißigste Beobachtung bei weitem nicht
in bezug auf Vollständigkeit und Richtigkeit an die
wissenschaftliche Arbeit heranreicht Weitere Beispiele,
die dasselbe beweisen, findet man auf Schritt und Tritt.
KUNST UND WISSENSCHAFT 33
Dem Anfänger ist es beispielsweise außerordentlich
schwer, die Wellenbewegung des Wassers zu an-
gemessenem Ausdruck zu bringen, weil eben die Er-
scheinung so beweglich ist, daß er keines der beständig
wechselnden Bilder festhalten kann; ebenso erscheinen
ihm die Farben von einer verwirrenden Mannigfaltig-
keit. Weiß er, daß jede Wellenbildung sich in die
Übereinanderlagerung mehrerer regelmäßiger Wellen-
systeme auflösen läßt, so erkennt er bald auch diese
Systeme etwa bei der Betrachtung des bewegten Meeres
wieder, er versteht nun die verwirrende Mannigfaltigkeit
aufzulösen und kann sie daher auch wiedergeben. Was
die Farbe anlangt, so braucht er nur einmal sich aus
den Gesetzen der Lichtbewegung den Schluß konstruiert
zu haben, daß die ihm zugewendete Brust der Welle
das aus dem Wasser kommende Licht, also die Eigen-
farbe des Wassers (oder die Farbe des etwa unter
flachem Wasser befindlichen Bodens), aufweisen muß,
während der Rücken der Welle das Licht des darüber
befindlichen Himmels spiegelt, also dessen Farbe
zeigen muß, und zwar um so mehr die Farbe des
Zenits, je näher die Welle dem Beschauer ist und je
höher er über ihr steht, um auch diese Mannigfaltigkeit
in ihre Bestandteile aufgelöst und sich ihre Darstellung
ermöglicht zu haben.
3
34 KUNST UND WISSENSCHAFT
Nun werden Sie mir vielleicht einwenden: der
Maler malt ja durchaus nicht nur, was er gesehen hat,
sondern auch viele Dinge, die es gar nicht gibt,
wenigstens für das leibliche Auge, wie schwebende
Engel oder Genien, allegorische Qöttergestalten und
allerlei andere Erzeugnisse der bildenden Phantasie.
Hierauf ist zu antworten, daß derartige Gestalten doch
nichts sind als Zusammensetzungen oder Umbildungen
sichtbarer Erscheinungen. Femer ist in Betracht zu
ziehen, daß früheren Jahrhunderten die physikalischen
und physiologischen Unmöglichkeiten derartiger Gebilde
durchaus nicht bewußt waren. Uns, denen diese Wider-
sprüche auffallender sind, machen solche Bilder auch
einen zunehmend geringeren künstlerischen, d. h. gefühls-
mäßigen Eindruck. Die Allegorie wird zurzeit nur noch
bei offiziellen und formellen Gelegenheiten in Dienst
genommen; bei gewissen phantastischen Richtungen
der modernen Malerei, wo gleichfalls Unwirkliches dar-
gestellt wird, handelt es sich wieder um tatsächlich
Erlebtes, nämlich die halb traumhaften Betätigungen des
Zentralorgans, die ohne äußere optische Reize eintreten.
Derartige freikombinierte Erinnerungsbilder der gestalten-
den Phantasie haben zweifellos auch gewisse Gemein-
samkeiten, deren Wiedergabe entsprechende Gefühle
beim Beschauer hervorruft. Auch hier liegt wohl wieder
KUNST UND WISSENSCHAFT 35
ein Fall vor, an welchem die Kunst Erfahrungstatsachen
handhabt, deren Bewältigung die Wissenschaft noch
nicht versucht hat
Was ich eben für die Kunst der Malerei darzulegen
versucht habe, wobei ich gar nicht einmal auf den offen-
kundigen Einfluß der Wissenschaft, auf die materielleren
Seiten der Technik, das Farbmaterial, die Bindemittel,
Malgründe u. s. w. eingegangen bin, das läßt sich an
allen anderen Künsten in ähnlicher Weise darlegen.
Daß z. B. die europäische Musik, die auf der Harmonie
beruht, hierin einen ganz und gar wissenschaftlichen
Boden besitzt, bedarf nur einer Andeutung. Auch hier
machen wir die Beobachtung, daß der schaffende
Künstler der Wissenschaft vorauseilt Über die logische
Verbindung der Harmonien in ihrer Aufeinanderfolge
gibt es zwar einzelne Untersuchungen, aber soviel mir
bekannt, ist es noch nicht gelungen, die musikalischen
Mittel unserer Klassiker, einschließlich Beethoven, voll-
ständig wissenschaftlich aufeuklären. Ich zweifle nicht
daran, daß dies künftig möglich sein wird, und wir
werden dann erkennen, daß jene großen Meister auf
Orund ihres hochentwickelten musikalischen Oehörs
Gesetze befolgt haben, von deren Existenz sie selbst
keine bewußte Ahnung gehabt haben. Ähnlich wie
bei der Perspektive wird es dann möglich sein, durch
3'
36 KUNST UND WISSENSCHAFT
Anwendung dieser Gesetze Musikstäcke zu schaffen,
die durch ihre innere Richtigkeit auf uns einen ebenso
überzeugenden künstlerischen Eindruck machen werden,
wie eine gut ausgeführte Perspektive. Der Künstler
jener Zeit wird aber keine Mühe mehr auf diese Seite
seiner Arbeit zu wenden haben, die ihm heute noch
zu den schwierigsten gehört, und er wird um so freier
seinen Stoff zum Ausdruck seiner Gefühle gestalten
können.
Meine verehrten Zuhörer! Ich kann in der kurzen
Zeit eines Abendvortrages Sie nicht einmal auf einem
eiligen Wege durch alle Hallen der Kunst führen, um
Ihnen überall die enge Verschwisterung zwischen ihr
und der Wissenschaft zu zeigen. Daß eine solche be-
steht und bei entsprechender Untersuchung überall nach-
weisbar ist, darf ich Sie auf Grund eigener Erfahrung
versichern, und nach dem, was ich Ihnen bereits dar-
gelegt habe, nehme ich an, daß es Ihnen nicht schwer
fallen wird, dieser Versicherung Glauben zu schenken.
So möchte ich nur noch zum Schlüsse, wie der Maler
bei der Vollendung seines Bildes, einige Schritte zurück-
treten, um das Ganze im Zusammenhange, ungestört
von den Einzelheiten, zu überschauen.
Fragen wir wie bei der Kunst nach der all-
gemeinsten Aufgabe der Wissenschaft, so läßt sich
KUNST UND WISSENSCHAFT 37
die Antwort noch kürzer geben: sie besteht im Prophe-
zeien. Alle die mannigfaltige Arbeit, welche die Wissen-
schaft treibt, hat im letzten Ende das Ziel, uns die Möglich-
keit zu geben, künftige Vorgänge vorauszusehen. Fast
unser ganzes Leben besteht ja in solchen Voraussichten,
fast alles, was wir tun, tun wir, damit künftig gewisse Er-
eignisse eintreten oder andere vermieden werden, und
die Erziehung jedes Menschen besteht darin, ihn mit
möglichst großer Sicherheit Voraussichten machen zu
lehren, daß er seine Handlungen darnach einrichten
kann. Die sicherste Voraussicht aber gewährt uns
überall erst die Wissenschaft, denn sie stellt ja all-
gemein die gegenseitige Abhängigkeit oder Aufeinander-
folge der Ereignisse aller Art fest
Nun arbeitet auch der Künstler für die Zukunft.
Ich meine dies nicht in solchem Sinne, daß er erst
vielleicht nach seinem Tode zu Anerkennung gelangen
mag, sondern ganz unmittelbar. Ehe er sein Kunstwerk
beginnt, hat er bereits eine Vorstellung, was es wohl
werden wird, aber er muß erst eine ganze Reihe zweck-
mäßiger Handlungen verrichten, ehe die ersten Spuren
seines Werkes in die Erscheinung treten. Und hernach
ist es auch nicht in einem Augenblicke fertig. Er muß
es verlassen und wieder aufnehmen, er muß es ver-
bessern und umgestalten. Alle diese Dinge kann er
38 KUNST UND WISSENSCHAFT
nicht tun, ohne daß ihm der Erfolg gegenwärtig ist,
bevor er die dazu erforderliche Handlung ausgeführt
hat. Er muß also überall in die Zukunft schauen und
wird es um so sicherer tun, je wissenschaftlicher er
seine Kunst auffaßt und treibt
Das ist in der Tat ein so naher Zusammenhang,
daß er ein untrennbarer genannt werden muß. Ich
will nicht behaupten, daß alle Künstler sich dieses Zu-
sammenhanges bewußt sind, und darnach ihre Kunst
betreiben; ja ich muß leider die Vermutung aussprechen,
daß er vielen nicht nur fremd ist, sondern daß manche
sogar ablehnen, ihn anzuerkennen und zu betätigen.
Dies steht im Zusammenhange mit Fragen, die ich neu-
lich an andrer Stelle erörtert habe. Auch der Praktiker
in der industriellen Technik hat wie der in der Kunst
zuweilen die Neigung, die Wissenschaft gering zu achten,
weil vielleicht einige ihrer Vertreter einmal Unsinn ge-
macht haben. Ich habe mich bemüht, darzulegen, wie
auch der entschiedenste Verächter der Wissenschaft
unter diesen Praktikern doch in seiner Weise ein Theo-
retiker, d. h. ein Wissenschaftler ist, wenn auch nur ein
sehr unvollkommener. Ebenso haben jene der Wissen-
schaft abgeneigten Künstler auch eine Wissenschaft
eigener Art Diese dient ihnen, wenn sie im übrigen
etwas rechtes können, ausreichend für ihre Zwecke,
KUNST UND WISSENSCHAFT 39
sie gestattet ihnen aber meist nicht, zu den betreffenden
Fragen einen weiteren und allgemeineren Standpunkt
zu gewinnen. Dies aber gestattet die Wissenschaft,
denn es ist ihre Aufgabe. Ich bitte Sie, einen schnellen
Rückblick über die Besprechungen dieses Abends zu
werfen: Nicht wahr, Sie werden sich erinnern, daß nicht
das geringste Verwerfungsurteil über irgend eine Art
oder Richtung der Kunst gefallen ist, ohne welche sonst
doch ein theoretischer Kunstvortrag beinahe unmöglich
ist? Das ist ja der große Segen der Wissenschaft, daß
sie erstens durch ihre Aufgabe der Allgemeinheit schon
von vornherein verpflichtet ist, alles zu verstehen, und
daher auch nach dem alten Worte alles zu verzeihen,
soweit überhaupt von Verzeihen die Rede sein kann.
Der andere, besondere Segen liegt darin, daß ein jeder
Künstler und ein jeder Kunstfreund an der Hand der
gewonnenen wissenschaftlichen Klarheit über das Wesen
und den Zweck der Kunst sein eigenes und das fremde
Kunstwerk fragen kann: Welche Gefühle vermagst
Du zu erwecken, wie schöne und starke und
willkommene? Und wenn er sich die Antwort zu
geben versucht, so wird ihm das ausgeprägt subjektive
Element in dieser zum Bewußtsein kommen, und er
wird sich sagen, daß ein anderer ganz wohl weniger
stark oder starker fühlen könnte, als er. Das wird ihn
40 KUNST UND WISSENSCHAFT
zur Milde gegen anders Fühlende stimmen, denn Oe-
fähle lassen sich nicht kommandieren, sie müssen mit
Hingebung und Liebe entwickelt werden. Und mit
diesem Friedensglockenklang wollen . wir unsere Be-
trachtungen schließen.
{ VNIYER8ITY
Druck von Fr. Richter in Leipzig.
YCIIM^'?
I